Folkocracy ist das Ergebnis einer Rückbesinnung: Rufus Wainwright kehrt damit zu seinen Wurzeln zurück – und knüpft an jene endlos langen Sommermonate seiner Kindheit an, in denen er viel Zeit auf Folk-Festivals verbrachte und sich anschaute, was seine berühmte Familie auf der Bühne zum Besten gab. >>
Zugleich ist es der Sound eines Künstlers, der ganz im Hier und Jetzt ist, der mit Unterstützung von unfassbaren Albumgästen all das nutzt, was er während seines Triumphzugs in der Welt des Pop gelernt hat, um Songs aufzunehmen, die jeden Preis der Welt verdient haben.
Apropos Preise: Tatsächlich kam Rufus die Idee für ein derartiges Album mit Folk-Neuinterpretationen in der Nacht der GRAMMY-Verleihung des Jahres 2021. Er selbst war an jenem Abend für sein Zurück-zum-Pop-Statement Unfollow The Rules nominiert – und lauschte nun der Preisverleihung in unzähligen Country- und Americana-Kategorien. Plötzlich erwachte in ihm so eine seltsame Sehnsucht – nach der Vergangenheit.
„Ich hatte so oder so schon über ein Coveralbum nachgedacht“, erzählt Rufus über jenen Abend. „Ursprünglich hatte ich vor, nur so riesengroße Popsongs auszuwählen, sie in meine Klangwelt zu überführen – und damit dann einen Megahit zu landen! Haha!“, lacht er. „Doch je älter ich werde, desto mehr weiß ich zu schätzen, wie wertvoll doch mein Wissen in Sachen Folkmusik ist – und die Tatsache, dass es mir wirklich schon als Kind in die Wiege gelegt wurde. Bei mir steht demnächst ein runder Geburtstag an, und wie könnte ich das besser zelebrieren, als ein paar jener Lieder, die prägend für mich waren, mit einigen Musikerinnen und Musikern neu einzusingen, die ich persönlich am meisten bewundere?“
„Früher habe ich immer einen Bogen um Folk gemacht und mich stattdessen lieber in Bereichen wie Oper oder eben Pop ausgetobt. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass ich aus einer astreinen Folkocracy – einer ‘Folkokratie’ – stamme, die sich nun mal ausgiebig mit anderen Folkokratien wie den Seegers und den Thompsons vermischt hat. Ja und jetzt, wo ich also auf die 50 zugehe, bin ich wieder genau da, wo alles für mich begann.“
Unterstützt wird Rufus auf dieser Zeitreise von einem echten All-Star-Cast: Auf der ersten Single „Down In The Willow Garden“, einem wunderschönen Update einer traditionellen Ballade aus den Appalachen, die von einem Mordfall erzählt, teilt er sich das Mikrofon mit Brandi Carlile. Zu den weiteren Hochkaräter-Gästen zählen neben John Legend, Chaka Khan, David Byrne, Anohni, Sheryl Crow, Susanna Hoffs, Chris Stills, Nicole Scherzinger und Van Dyke Parks auch ein paar Verwandte vom selben Folk-Stammbaum – u.a. Anna McGarrigle sowie Martha und Lucy Wainwright.
„Für mich stand von Anfang an fest, dass es richtig viele Gäste sein würden“, sagt er weiter, „schließlich geht es genau darum bei Folk-Musik: Es geht um die Gemeinschaft, um das Teilen einer Bühne. Allerdings hatte ich keine Lust auf ein ‘Duett-Album’. Wir haben uns da auf einem sehr schmalen Grat bewegt – Gäste unbedingt, aber keine Duette!“
Die 15 Songs von Folkocracy wählte Rufus gemeinsam mit seinem Produzenten Mitchell Froom aus: Einige davon begleiten ihn schon seit seiner Kindheit, andere sind Standards aus ganz unterschiedlichen Ecken der Welt, auf wieder andere stieß er erst während der Recherche für dieses Album. Zwei haben genau genommen nicht mal Wurzeln im Folk, bekommen bei ihm aber welche: eine Neuinterpretation von Franz Schuberts „Nacht und Träume“ und eine atemberaubende Neuaufnahme seines eigenen Stücks „Going To A Town“ – eingesungen mit Anohni (die beiden verbindet eine enge Freundschaft). „Mitchell hat dann auch einen von meinen Songs vorgeschlagen, weil er meint, das sei ein zukünftiger Folkklassiker“, schmunzelt Rufus. „Also ein Protestsong ist es in jedem Fall, das steht fest. Und ihn aufzunehmen mit Anohni, mit dieser unglaublichen Ausnahmestimme – auch wenn wir nicht am selben Ort waren –, das war so umwerfend, dass es mir kalt den Rücken runtergelaufen ist.“
„Was Schubert angeht, steht der für mich ganz klar in der Tradition des Folk: Schließlich ist der entscheidende Faktor eines Folksongs doch diese umwerfende Intimität. Es muss sich so anfühlen, als wäre man ganz alleine mit dem jeweiligen Musiker in einem Raum. So fühlt es sich an bei Bob Dylan, bei Joni Mitchell – und bei Schubert ist es für mich ganz klar dasselbe Gefühl.“
Folkocracy beginnt einer minimalistischen Coverversion von Ewan MacColls „Alone“, aufgenommen mit der momentan durchstartenden Folk-Sensation Madison Cunningham, die aufgewachsen ist mit Rufus’ Platten. „Madison ist überall auf dem Album zu hören, nicht bloß auf ‘Alone’“, stellt er klar. „Sie singt auch viele der Backing-Vocals ein und spielt dazu Akustikgitarre. Sie ist eine dermaßen grandiose Gitarristin – und startet damit aktuell ja auch richtig durch: Erst kürzlich ist sie im Vorprogramm von Harry Styles aufgetreten. Freut mich echt riesig, dass sie dabei ist. Fühlt sich einfach gut an, mit ganz jungen Leuten zu arbeiten, denen ich etwas mitgeben konnte auf ihrem bisherigen Weg.“
Weiter geht’s mit „Heading For Home“ (von Peggy Seeger), der zweiten Singleauskopplung des Albums, für die Rufus auf Banjoklänge und Gesangsverstärkung von John Legend setzt: „John hat schon ganz früh zugesagt“, erinnert er sich. „Ich liebe es, einen Song von ihm zu hören, der so ganz anders klingt als sein sonstiges Output. Man hört richtig, wie wir uns gegenseitig anspornen. Auch in der Welt des Folk gibt es so etwas wie Sparringpartnerschaften, die sich ergeben – und davon profitiert die Musik auf jeden Fall.“
„Ich habe bewusst Schottland als Ausgangs- und Endpunkt des Albums gewählt: ‘Heading For Home’ stammt aus der Feder von Peggy Seeger, die mit Ewan McColl verheiratet war. Die Seegers sind vermutlich die größte Folkocracy überhaupt, und davor verneige ich mich. Außerdem muss ich bei Peggys Aufnahme dieses Stücks wirklich jedes Mal weinen.“
Der Großteil von Folkocracy wurde live in Los Angeles aufgenommen, entweder in legendären Studios wie Sunset Sound – oder aber in Mitchells Homestudio. Lediglich David Byrnes Gesangspart für das gefühlvolle „High On A Rocky Ledge“ und Sheryl Crows Stimme auf der umwerfenden, à la Girlgroup-Sound arrangierten Neuinterpretation von „Twelve Thirty“ (The Mamas & The Papas) wurden gesondert aufgenommen und über digitale Kanäle beigesteuert.
„David befand sich in New York City, und ich war damals gerade in Los Angeles“, erinnert sich Rufus. „Die Wahl fiel dann auf einen Song von Moondog, weil wir beide die größten Fans von ihm sind. Ich hab seine Musik an einem schwülen Abend in Hawaii für mich entdeckt: Die Stimme dieses alten Mannes, der auf so wunderschöne Weise diese ganz schlichten und doch ganz raffinierten Melodien singt. Was ich so auch über David sagen würde: Sie beide machen Musik, die unglaublich zugänglich ist – und zugleich seltsam distanziert.“
„‘Twelve Thirty’ ist eine echt interessante Nummer: Da kommen ein paar Leute zusammen, die man wohl als ‘Neunziger-Vertreterinnen und -Vertreter’ bezeichnen muss – und die wollen dann die Sechziger wieder aufleben lassen. ‘Lass doch mal die 9 umdrehen!’“
„Ich habe diesen Song schon immer geliebt, und The Mamas & The Papas finde ich umwerfend, weil sie so gut darin waren, Folk und Rock miteinander zu kombinieren – wie sie diese Harmonien mit dieser Pfadfinderfestivalstimmung zusammenbringen! Unsere Tribute-Band besteht nun aus mir, Chris Stills, Susanna Hoffs und Sheryl, die ihre Backup-Gesänge von Nashville aus beigesteuert hat. Wir anderen waren zusammen im Studio. Susanna sah einfach umwerfend aus; keine Ahnung, was ihr Geheimnis ist, aber sie ist seit Jahrzehnten kein bisschen gealtert.“
Der allererste Song, der für Folkocracy aufgenommen wurde, war „Down In The Willow Garden“.
„Brandi sehe ich öfter, häufig zusammen mit Joni Mitchell“, erzählt er über seine Gastsängerin. „Also hab ich uns eine richtig schön fröhliche und leichte Nummer ausgesucht – von wegen! Der Song ist dermaßen brutal und masochistisch, dass ich ihn unbedingt mit einer Frau singen musste. Es ist traurig, aber wir leben immer noch in einer Welt der Gewalt. Mich haut immer wieder um, wie viel Zeitgenössisches doch in so vielen dieser Folksongs steckt, wie aktuell diese Texte zum Teil wirken. Man denke etwa an die vielen Fälle von Schusswaffengewalt, die wir aktuell wieder in den Staaten verzeichnen.“
Am schwierigsten zu organisieren war der Gastauftritt von Chaka Khan, wobei es hier um eine Neuaufnahme des Country/Folk-Klassikers „Cotton Eyed Joe“ ging, als deren Basis eine seltene Liveversion von Nina Simone dienen sollte. „Schwierig nicht etwa, weil sie nicht gewollt hätte … sie lebt einfach mal in komplett anderen Sphären als wir Normalsterblichen“, so Rufus.
„Zugegebenermaßen lag auch eine gewisse Aufregung in der Luft, als sie dann ins Studio kam. Schließlich ist sie eine Funksängerin, die nicht besonders viel Erfahrung mit Balladen hat. Aber natürlich hat sie richtig abgeliefert. Zusammen mit Chaka zu singen zählt ganz klar zu den Highlights meiner Karriere. Chaka & Rufus sind zurück!“
Das überraschendste und seltsamste Stück auf Folkocracy ist ganz klar „Kaulana N? Pua“, ein hawaiianischer Protestsong.
„Das war das Allerschwierigste, was ich jemals gemacht habe: diesen Song richtig einzusingen“, gesteht Rufus. „Vor zwei Jahren haben mein Mann und ich uns in Hawaii verliebt, weshalb wir uns während der Pandemiezeit dort ein Stück Land gekauft haben – quasi als Exit-Strategie. Er wollte, dass ich auch ein hawaiianisches Lied für dieses Album einsinge, und er bestand darauf, dass ich einen Sprachlehrer dafür nehme – was ich natürlich zunächst ablehnte. Später erst wurde mir klar, wie unglaublich schwierig es ist, in dieser Sprache zu singen. Ich musste also zugeben, dass er Recht gehabt hatte. Letztendlich brauchte ich sogar zwei Coaches und musste stundenlang üben, um dann trotzdem jede einzelne Zeile hinterher zehn Mal einsingen zu müssen.“
„Meine Wahl fiel ursprünglich auf ‘Kaulana N? Pua’, weil mir die Musik einfach sofort gefallen hat. Doch dann las ich den Text, der einfach mal unglaublich ist. Es ist ein Protestsong, ein Statement gegen die Annexion von Hawaii durch die Vereinigten Staaten. Meine Lieblingszeile daraus lautet: ‘Wir würden lieber Steine essen als euer Geld’.“
„Nicole habe ich bei einer Benefizveranstaltung kennengelernt, bei der wir beide auch zusammen auf der Bühne standen. Sie hat einfach eine umwerfende Stimme. Außerdem kommt sie aus Hawaii, das passte also perfekt. Ihre Stimme klingt in dieser Aufnahme wie der Ozean, finde ich.“
Passend zum Titel endet Folkocracy mit einer astreinen Familienangelegenheit: „Wild Mountain Thyme“ ist einer von jenen Songs, die Rufus schon als kleiner Junge zusammen mit seinen Schwestern gesungen hat. Auf der neuen Version, aufgenommen in Montreal, ist neben Martha, Lucy, seiner Tante Anna (McGarrigle) und deren Tochter (seiner Cousine) Lily Lanken auch Chaim Tannenbaum, ein guter Freund der Familie, zu hören. Letzterer spielt das legendäre Banjo, das früher Rufus’ verstorbener Mutter Kate gehörte. „Ich bin so glücklich, dass Mum es auch auf dieses Album geschafft hat“, sagt er abschließend. „Ohne sie gäbe es schließlich keine Folkocracy.“
Quelle: BMG RIGHTS MANAGEMENT